Es ist kurz nach Mitternacht und am Flughafen von Chennai in Südindien herrscht hektische Betriebsamkeit. Im Gegensatz zu Deutschland, wo ein Nachtstartverbot existiert, heben in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern die Interkontinentalflüge oft mitten in der Nacht ab. Chennai hat zwischen fünf und acht Millionen Einwohner, je nachdem, wo man die Grenzen der Stadt definiert. Ihren Namen trägt die Stadt erst seit 1996, früher hieß die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Tamil Nadu am Golf von Bengalen Madras.
Mein Kollege Nataraj Babu - er nennt mich Mister Udo, ich nenne ihn einfach Babu - wartet am Ausgang des Flughafens auf mich. Babu arbeitet für CReNIEO, eine Partnerorganisation des GNF, und leitet seit 2009 unser gemeinsames Artenschutzprojekt am Pulicat See. Das Projekt wird vom Deutschen Bundesamt für Naturschutz finanziell unterstützt. Es soll einen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt leisten und die wichtigste Einkommensquelle der Bevölkerung am Pulicat See, den Fischfang, sichern.
Am nächsten Tag holen Babu und seine Kollegin Premanjali Rao mich ab und wir fahren in die etwa 60 Kilometer entfernte Stadt Pulicat, die auf Tamilisch Pazhaverkadu heißt. Am frühen Morgen herrscht bereits Verkehrschaos in Chennai. Nach etwa zwei Stunden erreichen wir das ländliche Pazhaverkadu am Pulicat See und treffen nur noch vereinzelt auf andere Fahrzeuge. Um 9:30 Uhr klettert die Temperatur schon in Richtung 30 Grad Celsius. Babu berichtet, dass das Thermometer im Februar selten über 35 Grad steigt. Wenn Ende April der Monsun einsetzt, wird es an der südindischen Küste bei hoher Luftfeuchtigkeit bis zu 45 Grad heiß, für Europäer schwer erträgliche Temperaturen.
Traditionelle Fischereimethoden sind in Gefahr
Pulicat ist das zweitgrößte Binnengewässer Indiens. Die mit dem Meer verbundene Lagune ist reich an Fischen und Krustentieren, und die Menschen leben seit Generationen vom Fischfang. Etwa 30.000 Berufsfischer gibt es am Pulicat See, der kleiner als der Bodensee ist. Die traditionelle Fischerei wird seit Jahrhunderten über ein „Padu“ genanntes System geregelt. Padu legt die Fangmengen der Dörfer am See fest und schützt ihn dadurch vor Überfischung. Allerdings steigt die Zahl der Menschen und der Fischer, die rund um die Lagune leben, kontinuierlich an. Übernutzung der Fischgründe und zunehmende Konflikte innerhalb des Padu-Systems sind die Folge.
Während wir durch das flache Wasser waten, weist Babu auf das dichte Wurzelwerk der Mangroven hin, das Larven und Jungtieren zahlreicher Süß- und Salzwasserarten ideale Lebensbedingungen bietet. Mangroven helfen auch, die verheerenden Folgen von Stürmen, Flutwellen und Tsunamis zu lindern. Fast 20.000 Bäume haben Babu und sein achtköpfiges Team in den vergangenen Monaten gepflanzt. Die Setzlinge stammen aus eigener Aufzucht. Da es in der Zwischenmonsunzeit recht trocken werden kann, müssen die Setzlinge in den Baumschulen täglich mit Brackwasser aus der Lagune gewässert werden, eine sehr mühsame Arbeit.
Die Menschen am See sind intensiv in das Projekt mit einbezogen. Frauen aus der Umgebung helfen beim Auspflanzen der Mangrovensetzlinge und bei der Pflege der Pflanzen. Für den Erfolg des Projektes ist es wichtig, die Menschen zu überzeugen, dass die intakten Mangrovenwälder langfristig ihre Lebensgrundlagen sichern. Deshalb organisieren Babu und sein Team regelmäßige Treffen mit den Fischerfamilien.
Im Dorf Kottai Kuppam treffe ich Selvaraj Rajasekaran, den Vorsitzenden einer Fischerkooperative, die auf tamilisch „Panchayat” heißt. Babu erklärt, dass die Panchayats eine Art Dorfältestenrat sind. Herr Rajasekaran bietet mir an, ihn beim Fischen zu begleiten und so fahren wir im warmen Licht der langsam untergehenden Sonne auf die Lagune. Der 57-jährige erklärt mir, dass immer sieben Fischerfamilien eine Gruppe bilden, die sich ein über Generationen vererbtes Fangrecht teilt.
Langsam gleiten zwei weitere Fischerboote mit bunten Segeln an uns vorbei. Die idyllische Szenerie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Fischerei um harte Arbeit handelt. Mit dem Ertrag können die Fischer ihre Familien gerade ausreichend ernähren.
Mit Taschenlampen auf Schildkrötenjagd
Babu berichtet, dass die Küste südlich von Pulicat zwischen Februar und März von Oliv-Bastardschildkröten zur Eiablage genutzt wird. Die Schildkröte verdankt ihren wenig schmeichelhaften Namen der Tatsache, dass sie früher als Kreuzung von Unechter Karettschildkröte und Grüner Meeresschildkröte galt. Um Mitternacht wandern wir mit Taschenlampen ausgerüstet drei Stunden lang den einsamen Strand entlang. Wir finden leider nur zwei tote Schildkröten. Noch immer bejagen Wilderer die Meeresschildkröten oder plündern ihre Eier. Der große Teil wird jedoch Opfer des industriellen Fischfangs. Die stark bedrohten Meeresreptilien kommen regelmäßig zum Atmen an die Oberfläche und verstricken sich dabei oft in den Fischernetzen der großen Trawler. An den Stränden Südindiens werden jedes Jahr tausende toter Schildkröten angespült.
Auf meinem Flug zurück nach Deutschland denke ich an meine Begegnung mit Anapan Lourdes, einen Fischer vom Pulicat See. Er hat von seinen beiden Söhnen erzählt, die in Chennai studieren. Leider kann Anapan seinen Jungs dort kein Zimmer bezahlen. Also fahren die beiden jeden Tag drei Stunden mit dem Bus nach Chennai, pro Weg, versteht sich. Die Busfahrkarte wird zum Glück von der Regierung gestellt. Solche Details führen mir immer wieder vor Augen, wie privilegiert wir in Deutschland leben.
Udo Gattenlöhner ist Geschäftsführer des Global Nature Fund.